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er Gardeposten am Sant’Anna-Tor bestand aus jungen Gardisten. Frische Gesichter, die Alexander nie gesehen hatte. Das war ihm ganz recht, denn er war viel zu müde für ein Schwätzchen mit alten
Kameraden. Morgens war er noch in Florenz gewesen, jetzt, am frühen Nachmittag, lag eine anstrengende Autobahnfahrt hinter ihm.
Er blickte zu Donati hinüber, der auf dem Beifahrersitz saß und dumpf vor sich hin brütete. Der Freund wirkte nicht nur müde, sondern bekümmert. Er hatte allen Grund dazu, wenn die Theorie stimmte, die sie auf der Fahrt nach Rom entwickelt hatten. Schon am Abend würden sie vermutlich mehr wissen.
Sie hatten kurz im römischen Polizeipräsidium auf dem Quirinal Station gemacht, hatten dann Elena bei ihrer Wohnung auf dem Gianicolo abgesetzt und waren weitergefahren zum Vatikan. Donati hatte telefonisch einen Termin mit Henri Luu vereinbart.
Während Alexander einen Parkplatz auf dem Damasushof ansteuerte, zeigte Donati, aus seiner Lethargie erwacht, in den Himmel jenseits des Vatikanischen Geheimarchivs.
»Ist das nicht der päpstliche Hubschrauber, der
da aufsteigt?«
Alexander legte den Kopf schief, und sein Blick folgte Donatis
ausgestrecktem Finger.
»Ja, sieht ganz so aus. Ich wußte nicht, daß einer der Päpste heute
einen auswärtigen Termin hat.«
»Vielleicht wird ja auch ein wichtiger Gast vom Flughafen
abgeholt.«
Sie betraten den Apostolischen Palast, fuhren mit dem Lift nach
oben und wurden von einem Gardisten zu Luus Büro begleitet. Der
Privatsekretär von Papst Custos stand, mit dem Rücken zu ihnen,
hinter seinem klobigen Schreibtisch, auf dem sich Papierstapel und
Aktenordner türmten, und blickte hinaus in den grauen Himmel, unter
dem selbst die begrünten und penibel gepflegten Vatikanischen
Gärten trostlos aussahen.
»Beobachten Sie den Hubschrauber, Don Luu?« fragte Alexander nach
der Begrüßung. »Wir haben eben bemerkt, daß er aufgestiegen
ist.«
Auf Luus Stirn bildeten sich Sorgenfalten. »Seine Heiligkeit, Papst
Lucius, sitzt darin. Vor kurzem haben wir einen besorgniserregenden
Anruf erhalten.«
»Inwiefern?«
»Nehmen wir erst einmal Platz«, sagte Luu, und sie setzten sich.
»Ich kann natürlich, wie immer, auf Ihre Diskretion hoffen, nehme
ich an.«
Donati wirkte ein wenig beleidigt. »Sonst säßen wir nicht hier, Don
Luu!«
»Natürlich, natürlich, entschuldigen Sie. Aber was sich hier in
letzter Zeit abspielt, bringt sogar meine asiatische Hälfte dazu,
ihren Gleichmut zu verlieren.« Er blickte erneut aus dem Fenster,
obwohl der Hubschrauber inzwischen einige Kilometer entfernt sein
mußte. »Papst Lucius ist unterwegs zu seinem Sohn, dem es sehr
schlecht gehen soll.«
»Enrico?« fragten Alexander und Donati fast mit einer
Stimme.
»Ja, Enrico Schreiber. Er hat die letzten Wochen, wie ich soeben
erfuhr, in einem kleinen Kloster in den umbrischen Bergen
verbracht, San Gervasio. Heute rief ein Arzt an und teilte mit, daß
Signor Schreiber schwer erkrankt sei. So schwer, daß er nicht
transportfähig ist. Offenbar hat Signor Schreiber dem Arzt und dem
Abt erzählt, daß er über eine enge Verbindung zum Heiligen Stuhl
verfügt. Papst Lucius hat auf Anraten von Papst Custos alle Termine
abgesagt und will seinen Sohn besuchen. Vielleicht kann der Heilige
Vater da weiterhelfen, wo die ärztliche Kunst versagt.«
Alexander und Donati verstanden die Anspielung auf Lucius’ heilende
Fähigkeiten.
»Welcher Art ist Enricos Erkrankung?« erkundigte Alexander sich,
aber Luu wußte es nicht.
Eine Seitentür wurde geöffnet, und der Eintretende sagte: »Ich weiß
leider auch nicht mehr darüber. Mein Amtsbruder hatte es nach dem
Telefonat mit dem Arzt sehr eilig, was ich gut verstehen
kann.«
Papst Custos begrüßte Alexander und Donati herzlich und erkundigte
sich nach ihren jüngsten Erlebnissen. »Wie ich hörte, ist
Erzbischof Guarducci zu Tode gekommen.«
»Er starb quasi in Elenas und meinen Armen, Heiliger Vater«, sagte
Alexander und berichtete in kurzen Worten, was sich in den Bergen
nördlich von Florenz ereignet hatte. »Die dortige Polizei sucht
noch nach dem zweiten Killer, aber ich fürchte, er ist entkommen.
Und ich fürchte auch, daß wir ihm nicht zum letzten Mal begegnet
sind.«
Donati öffnete die Aktentasche, die er bei sich trug, und legte den
dickleibigen Ordner aus Guarduccis Tresor auf den
Schreibtisch.
»Immerhin war das ganze Unternehmen nicht vergebens. Wir konnten
die Unterlagen sicherstellen, die Rosario Picardi bei seinem alten
Freund, dem Erzbischof, deponiert hatte. Zweifellos waren die
Killer damit beauftragt, diese Papiere an sich zu nehmen oder zu
vernichten. Dank Alexander und Elena konnten sie ihren Auftrag
nicht erfüllen.«
»Ein Stapel Akten gegen drei Menschenleben«, sagte Custos
nachdenklich. »Das ist kein Erfolg, der einen froh stimmen
kann.«
Luu deutete auf den Ordner. »Was steht da drin?«
»Zahlen, und zwar jede Menge«, ächzte Donati. »Überweisungsbelege,
Kalkulationen, Bilanzen, was weiß ich. Um das zu verstehen, müßte
ich erst Betriebswirtschaft und Mathematik studieren.«
»Dann sollten wir die Unterlagen einem Finanzfachmann vorlegen«,
schlug Luu vor.
»Ebendeshalb sind wir hier«, erklärte Donati. »Wir haben die
Unterlagen vorhin im Präsidium kopieren lassen und unseren besten
Finanzexperten drangesetzt. Aber in Anbetracht der Menschenleben,
die wegen dieser Sache bereits geopfert worden sind, drängt die
Zeit. Daher halten wir es für zweckmäßig, wenn Sie auch einen Ihrer
Leute mit der Überprüfung der Akten beauftragen. Jemanden, der sich
mit den Geschäften der Vatikanbank auskennt und der
vertrauenswürdig ist.«
»Wie wäre es mit Kardinal Scheffler?« schlug Luu vor. »Niemand
kennt sich so gut mit dem Institut für die religiösen Werke aus wie
er.«
Donati verzog das Gesicht. »Ehrlich und im Vertrauen gesagt, der
Kardinal erscheint mir nicht so ganz geeignet.«
Custos beugte sich vor. »Sie verdächtigen Scheffler?«
»Wir haben keine Hinweise darauf, daß Scheffler in die Morde
verwickelt ist«, sagte Donati vorsichtig. »Aber seine Beteiligung
an der Sache ist auch nicht ganz auszuschließen. Bisher deutet
alles darauf hin, daß die Vatikanbank in irgendeiner Weise in
krumme Geschäfte verstrickt ist. Wenn das so ist, erscheint der
Gedanke, daß der Generaldirektor des IOR daran beteiligt ist, nicht
ganz abwegig.«
»Aber Kardinal Scheffler besitzt das absolute Vertrauen des
Heiligen Stuhls«, protestierte Luu. »Andernfalls hätte er diesen
hohen Posten niemals inne.«
»Mit dem Vertrauen ist das so eine Sache«, sagte Alexander. »Auch
andere Kardinäle haben es mißbraucht. Oder denken Sie an meinen
Vater und andere Angehörige der Schweizergarde. Sie alle besaßen
das Vertrauen des Heiligen Stuhls und haben doch gegen die
Interessen der Kirche gehandelt.«
»Schon, aber das war zu Zeiten von Totus Tuus.« Als weder Alexander
noch Donati auf diese Bemerkung etwas erwiderte, wurde Luu blaß.
»Sie wollen doch nicht andeuten, daß Totus Tuus wieder aktiv
geworden ist? Gibt es dafür Beweise?«
»Totus Tuus hinterläßt selten Beweise für seine Machenschaften«,
antwortete Alexander. »Nein, wir haben nichts Handfestes, das auf
eine Beteiligung dieser unheiligen Vereinigung hinweist. Es ist
bloß eine Vermutung. Wir haben es mit einem mächtigen Gegner zu
tun, der offenbar über gute Kontakte zum Vatikan verfügt. Anders
lassen sich der seltsame Tod Kardinal Mandumes, die Ermordung
Picardis und der Überfall auf das Haus von Erzbischof Guarducci
nicht erklären. Ich weiß, daß Totus Tuus offiziell als aufgelöst
gilt und daß alles getan worden ist, um auch die inoffiziellen
Verbindungen des Ordens zu kappen. Aber können wir wirklich sicher
sein, daß uns das in vollem Umfang gelungen ist? Wir sollten
vorsichtig sein, ganz gleich, ob unser Gegner Totus Tuus heißt oder
nicht!«
Custos legte eine Hand auf Alexanders Arm. »Da stimme ich Ihnen zu,
mein Sohn. Gehen wir also mit Bedacht zu Werke und halten Kardinal
Scheffler vorerst aus den Ermittlungen heraus.« Der Papst blickte
seinen Sekretär an. »Wer kommt dann in Frage, Henri?«
Luu dachte kurz nach, bevor er fragte: »Wie wäre es mit dem jungen
Pallottino?« Er wandte sich an Donati und Alexander. »Den haben Sie
bereits kennengelernt, wenn ich mich nicht täusche.«
Alexander erinnerte sich an den jungen, wie aus dem Ei gepellten
Banker, der ihn und Donati zwei Tage zuvor zum Generaldirektor des
IOR geführt hatte.
Donati räusperte sich und meinte: »Das ist doch Schefflers
Sekretär!«
»Befürchten Sie da einen Loyalitätskonflikt?« fragte Luu. Donati
nickte. »So etwas in der Art, Don Luu.«
Luu machte ein unglückliches Gesicht. Custos lächelte ihn
aufmunternd an.
»Nicht aufgeben, Henri. Weshalb haben Sie Pallottino
vorgeschlagen?«
»Weil er einer der Besten ist, Heiliger Vater. Wenn nicht der
Beste. Keiner hatte im Internat so gute
Noten wie er. Außerdem war er bis vor kurzem – bevor Scheffler ihn
in sein Büro geholt hat – Picardis Sekretär. Ich dachte, von daher
müßte er sich mit Picardis Aufzeichnungen gut auskennen.«
Alexander und Donati wußten beide, was mit »Internat« gemeint war,
und der Polizeidirektor faßte es in Worte: »Pallottino ist also der
Sohn eines Geistlichen.« Viele katholische Geistliche hatten trotz
des Zölibats Kinder, und die katholische Kirche unterstützte die
unehelichen Sprößlinge ihrer Kirchenmänner. Nicht nur und
vielleicht nicht einmal vorrangig aus Nächstenliebe, sondern auch,
um die öffentliche Empörung in Grenzen zu halten. Besonders begabte
Söhne ihrer Priester förderte die Kirche durch ein Stipendium für
eine Ausbildung, die ihnen später einen Einsatz in der Verwaltung
des Vatikans erlaubte, soweit sie sich nicht gleich dem Priesteramt
zuwandten. Im Vatikan hatte sich für diese Institution der Ausdruck
»Internat« eingebürgert.
»Dieses leidige Zölibat«, sagte Custos gequält. »Wie Sie wissen,
habe ich schon einmal versucht, es abzuschaffen. Aber selbst einem
Papst sind Grenzen gesetzt, und unsere eben doch konservative
Kirche ist für diesen Schritt noch nicht bereit.«
Donati, dem der Sinn nicht nach einer kirchenpolitischen Debatte
stand, trommelte ungeduldig auf Picardis Geheimakten. »Meinetwegen
versuchen wir es mit diesem Pallottino. Er muß sich allerdings zur
Geheimhaltung verpflichten und darf auch Kardinal Scheffler nicht
sagen, was er hier tut.«
Ein Telefonat von Henri Luu, und zehn Minuten später saß Fabio
Pallottino in dessen Büro und zeigte sich von der Anwesenheit des
Papstes sehr beeindruckt. Luu erklärte ihm, daß ihm eine höchst
wichtige Aufgabe übertragen werden solle, daß er aber außer den
hier anwesenden Personen niemandem etwas darüber sagen dürfe, auch
nicht seinem Vorgesetzten. »Aber … was sage ich Seiner Eminenz,
wenn er mich fragt?«
»Sie werden Seiner Eminenz sagen, daß der Heilige Vater persönlich
Sie zum Stillschweigen verpflichtet hat«, antwortete Luu. »Außerdem
erhalten Sie für die Zeit, die Sie brauchen, um diese Aufgabe zu
lösen, ein eigenes Büro. Dann werden Sie nicht allzu häufig mit
Kardinal Scheffler zusammentreffen.«
Pallottino wirkte noch nicht überzeugt, und Custos fügte hinzu:
»Wenn Sie die Aufgabe übernehmen, geschieht das absolut freiwillig,
mein Sohn. Niemand hier will Sie in einen Gewissenskonflikt
stürzen, und niemand wird Ihnen einen Strick daraus drehen, wenn
Sie nein sagen. Aber Don Luu hat Sie in dieser Angelegenheit als
den Besten empfohlen.«
Das schmeichelte Pallottino, und er setzte sich unwillkürlich
kerzengerade hin. »Wenn ich Ihnen dienlich sein kann, Heiliger
Vater, übernehme ich jede Aufgabe. Selbstverständlich können Sie
auf mein Stillschweigen zählen.«
»Danke, mein Sohn«, sagte Custos, und Luu erläuterte dem jungen
Banker, worin seine Aufgabe bestand.
»Geheime Akten von Don Picardi?« Pallottino warf dem dickleibigen
Ordner einen respektvollen Blick zu. »Woher stammen die?«
»Das hat Sie nicht zu interessieren«, sagte Donati brüsk. »Je
weniger Sie über die Hintergründe wissen, desto besser. Sie sollen
die Akten unvoreingenommen prüfen und uns sagen, was sie
beinhalten. In verständlichen Worten, wenn das möglich
ist.«
»Selbstverständlich, Dirigente Donati«, sagte Pallottino
eilfertig.
Donati musterte ihn eingehend. »Ihrer Reaktion entnehme ich, daß
Sie von diesen Unterlagen nichts gewußt haben.«
»Nein, wieso auch?«
»Weil Sie Picardis Sekretär gewesen sind, bevor Kardinal Scheffler
Sie zu sich geholt hat. Hatten Sie danach noch engen Kontakt zu
Picardi?«
»Nein, so gut wie keinen. Meine neue Aufgabe hat mich ganz in
Anspruch genommen.«
Donati legte eine Hand auf den Aktenordner. »Ihnen war also nicht
bekannt, daß Picardi wichtige Akten sammelte, die offenbar
brisantes Material enthalten?«
Pallottino schüttelte den Kopf. »Nein, Dirigente Donati.«
»Gab es für Ihren Wechsel zu Kardinal Scheffler einen besonderen
Grund?«
»Don Picardi selbst hat mich Seiner Eminenz empfohlen, weil er
meinte, gute Leistungen müßten belohnt werden.«
»So?« Donati wies auf den Aktenordner. »Na, dann zeigen Sie mal,
was zu leisten Sie in der Lage sind, Signor Pallottino!«